Lesegottesdienst Palmarum (Bickelhaupt)

 

Psalm des Sonntages 69,2–4.8–10.14.21b–22.30

Gott, hilf mir! Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle. Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist; ich bin in tiefe Wasser geraten, und die Flut will mich ersäufen. Ich habe mich müde geschrien, mein Hals ist heiser. Meine Augen sind trübe geworden, weil ich so lange harren muss auf meinen Gott. denn der Eifer um dein Haus hat mich gefressen, und die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen. Ich aber bete, HERR, zu dir zur Zeit der Gnade; Gott, nach deiner großen Güte erhöre mich mit deiner treuen Hilfe. Ich warte, ob jemand Mitleid habe, aber da ist niemand, und auf Tröster, aber ich finde keine. Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen Durst. Ich aber bin elend und voller Schmerzen. Gott, deine Hilfe schütze mich!

Predigt über Markusevangelium 14,1-9

 

1 Es waren noch zwei Tage bis zum Passafest und den Tagen der Ungesäuerten Brote. Und die Hohenpriester und Schriftgelehrten suchten, wie sie ihn mit List ergreifen und töten könnten. 2 Denn sie sprachen: Ja nicht bei dem Fest, damit es nicht einen Aufruhr im Volk gebe. 3 Und als er in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt. 4 Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? 5 Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an. 6 Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. 7 Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. 8 Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis. 9 Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.

 

Mit dem heutige Palmsonntag kommen wir in der Karwoche an. Je nach konfessioneller und liturgischer Prägung wird sie auch „Große Woche“ oder „Heilige Woche“, mitunter auch „Große heilige Woche“ genannt – so auch in den meisten anderen Sprachen. Karwoche ist ein singulär deutscher Begriff, vermutlich vom althochdeutschen Kar/a (Klage, Sorge, Trauer).

 

Eine Woche strengen Fastens in vielen christlichen Kirchen, eine Woche, die zunächst auf die Kreuzigung Jesu hinläuft. Und ich fürchte, in diesem Jahr auch eine Woche, die die Stimmung selbst bei jenen sinken lässt, die keinerlei religiösen backround haben. Von den Kindern und Jugendlichen habe diesbezügliches schon im Onlineunterricht gehört. Während der ersten beiden Schulschließungswochen saßen sie alle noch recht vergnügt vor ihren Bildschirmen. Letzte Woche war das dann schon anders – „es klingt zwar dumm“, sagte eine Schülerin der 3. Klasse AHS, „aber ich vermisse selbst die Professoren“, „nicht alle natürlich“, hat sie dann noch schnell korrigiert.

 

Nun gehen wir in die vierte Woche – die Ferienwoche – der vielleicht lang erwartete Urlaub ist storniert, die gemeinsamen Osterfeierlichkeiten in der Verwandtschaft werden ausfallen, kein Shopping statt Schule. Jahrzehntelange Traditionen – plötzlich ist alles anders. Bei manchen schon ideologisch verfestigte Abläufe, Vorstellungen und Planungsmuster – hinfällig (auch bei mir, der ich jetzt eigentlich wie seit 1996 jedes Frühjahr für eine Woche im Zelt am lybischen Meer wohnen wollte).

 

Jetzt ist alles anders, jetzt muss getan oder gelassen werden, was getan werden kann oder gelassen werden soll. Das, liebe Leser/innen, ist auch die Quintessenz des heutigen Predigttextes.

 

Jesus sagt mit Blick auf die Frau, die ihn gesalbt hat: „Sie hat getan, was sie konnte.“ Es gibt Zeiten, da ist kein Platz mehr für Ideologien. Es gibt Momente, da spielen festgefügte Muster, egal ob staatliche, wirtschaftliche, religiöse oder auch private keine Rolle mehr – da ist etwas Anderes dran - das ist die Botschaft Jesu an seine Jünger in dieser Situation.

 

Natürlich wäre es normalweise besser und im Sinne der Gerechtigkeit, das teure Nardenöl zu Gunsten der Armen zu verkaufen, statt es für eine Person zu vergeuden. JETZT aber eben gerade nicht. JETZT ist diese Frau da und sie tut aus dem Bauch heraus das, was sie spürt. Keine taktischen Überlegungen stehen da im Hintergrund und keine wirtschaftliches Rechnen, wieviel Portionen Essen für die Ärmsten sie da gerade über dem Kopf von Jesus verteilt; eben so wenig, wieviel Luxus sie sich vielleicht für den Wert von 300 Silbergroschen hätte verschaffen können. Mich begeistert diese Frau – sie handelt ganz aus Liebe und Intuition heraus, spürt, das Jesus den Tod vor Augen hat und es die letzte Chance sein wird, ihm etwas Gutes zu tun.

 

Die Jünger sind derweil ganz woanders. Sie trauern nicht um Jesus, sie trauern um die verlorenen Silbergroschen für die Armen. Sie verdrängen das, was ihrem Meister und ihnen bevorsteht und woran uns die Karwoche jedes Jahr erinnert. Und nein, das ist keine böse Absicht, das ist menschlich. Ich kann sie verstehen, denn sie denken im Rahmen ihrer Strategien und Ideologien hinsichtlich Luxus, Gerechtigkeit und Verschwendung. Und sie haben dabei nicht einmal ihre persönlichen Urlaubspläne, familiäre Glücksmomente oder Gewinninteressen im Kopf – sie wollen einfach den Armen helfen, sie wollen Gutes tun.

 

Aber JETZT ist eben nicht die Zeit des kühlen Verstandes. Jetzt ist die Zeit … „umzudenken“ hätte ich beinahe geschrieben … aber das ist eben gerade  nicht das richtige Wort, weil es nicht ums Denken geht. JETZT ist die Zeit, wahrzunehmen, in sich hinein zu horchen und zu tun, was die Intuition sagt und was man ihr folgend tun kann. So wie eben diese Frau, deren Spontaneität mich begeistert und die von Jesus darin bestärkt wird, ihrem Liebeswerk einfach nachzugehen.

 

Vielleicht sehe ich da ein wenig zu rosarot, aber ich habe in den letzten Wochen, in denen wir alle aus unseren geplanten Abläufen hinauskatapultiert worden sind, zunehmende das Gefühl, das manche Menschen genau das wieder für sich entdecken können - das Handeln jenseits vorgefertigter Strategien – Handeln, so wie es der Moment erfordert und wie einem das Innere sagt. In den Medien wird dieser Tage viel von wirtschaftlichen und finanziellen Verlusten geredet, es wird bilanziert und Menschen haben zu Recht Angst um ihre Existenzgrundlagen. Zu erwarten wäre, das in Folge jeder zurückhält, was er hat. Im Gegensatz dazu erfreut sich allerdings die Stadtdiakonie Wien und damit ‘s Häferl gerade eines deutlich erhöhten Spendenaufkommens – sowohl finanziell als auch im Blick auf Lebensmittel. Ich weiß nicht, woher die Spenden kommen, ich möchte aber rosarot glauben, dass sie von Menschen kommen, die einfach sagen: JETZT tue ich, was ich kann und ich tue es, ohne groß darüber nachzudenken.

 

Vielleicht gelingt es uns ja auch, die Karwoche dazu zu nutzen, wieder mehr unserer Intuition zu folgen. Vielleicht stoßen wir auf erstaunliche Möglichkeiten des ungeplanten und unreflektierten JETZT – Möglichkeiten, die wir versäumt hätten, wenn wir wie jedes Jahr ans Meer oder in die Berge geflogen oder gefahren wären.

 

Vielleicht entdecken wir, was ein Osterspaziergang im frühlingsblühenden Wienerwald alles zu bieten hat. Vielleicht praktizieren wir heuer selbst Osterbräuche, die wir bisher eher nur als passive Gäste bei Eltern oder Großeltern erlebt haben.  Vielleicht schauen wir auch mal wieder am Ostersonntag in einer Kirche vorbei, die offen ist, und halten dort ein stilles Gebet im Schein der Osterkerze.

 

Es gibt viele „Vielleicht“ in dieser Karwoche, weil mehr Menschen als sonst Zeit haben, die nicht so durchgeplant ist, wie sie es in den vergangenen Jahren war. Welches - auch hier ungenannte - „Vielleicht“ im JETZT der nächsten Tage Realität werden könnte wissen, wir nicht. Lassen wir uns einfach überraschen, tun wir einmal das, was uns spontan einfällt im Rahmen der außergewöhnlichen Bedingungen.  

 

Wir haben von Gott nicht nur einen Geist der strukturierenden Vernunft geschenkt bekommen. Er hat in uns auch die Möglichkeit gelegt, spontan zu spüren und zu tun, was im jeweiligen JETZT gerade zu tun ist und getan werden kann.                                                 


Den Liedtext können wir - wie von manchen gewünscht - aus urhberrechlichen Gründen hier leider nicht anzeigen.

Gebet

 

Zeit und Möglichkeiten, guter Gott, wir haben sie, du schenkst sie uns jeden Tag neu, auch in der beginnenden Karwoche. Manchmal fragen wir uns, was wir damit anfangen sollen, planen, grübeln, wägen ab und kommen doch zu keinem Ergebnis. Ich bitte dich, hilf mir und anderen Menschen zu tun, was richtig und wichtig ist. Lass deine Stimme in uns wach sein, dass sie uns ermutige wahrzunehmen und von Herzen zu reagieren.                                Amen        



So möge Gott uns segnen. Er möge uns den Rücken stärken, wenn wir Mut brauchen; seine Hand über uns halten, wenn wir Schutz benötigen und uns in den Arm nehmen, wenn wir ratlos und ängstlich sind!

 

Einen schönen Sonntag und gute Zeit wünscht 

Ihr/Euer Pfarrer Michael Bickelhaupt 

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Kommentare: 1
  • #1

    Elli Schüle (Montag, 06 April 2020 17:54)

    Lieber Michael! Danke für die wunderbare Predigt. Deine Worte haben mir gut getan hier in der "Klausur". Auch wenn heuer alles anders ist - Ostern ist nicht abgeschafft.
    Text auf einer Osterkarte, die ich bekommen habe:
    Ein Kreuz wird zur Rettung
    Licht durchbricht die Nacht
    Ostern verheißt: das Leben siegt
    Grüße nach Gumpendorf und bleibt gesund!