Lesegottesdienst Karfreitag (Schiemel)

 

Psalm 22, 2 - 9. 12. 16. 19 - 20

2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. 3 Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe. 4 Aber du bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels. 5 Unsere Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfst du ihnen heraus. 6 Zu dir schrien sie und wurden errettet, sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden. 7 Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volk. 8 Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf: 9 »Er klage es dem HERRN, der helfe ihm heraus und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.«  12 Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer. 16 Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, / und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub.  19 Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand. 20 Aber du, HERR, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen!

 Predigt über Psalm 22

Karfreitag 2020. Wir kommen nicht elegant und feierlich gestimmt in die Kirche. Wir hören keine Predigt, feiern kein Abendmahl, singen keine Passionslieder. Wir können uns nicht gemeinsam unseres Glaubens, unserer Gemeinschaft, unserer evangelischen Identität vergewissern. Karfreitag 2020 ist ein Karfreitag der anderen Art. Die einen werden einen der professionell produzierten TV-Gottesdienste mitverfolgen. Andere werden sich miteinander auf eine häusliche Andacht einlassen. Wieder andere werden sich zurückziehen und ganz für sich Jesu Leiden und Sterben bedenken.

 

So geben wir dem Kreuzesgeschehen auf eigene Weise Raum in unseren Wohnungen. Auf unterschiedliche Weise und doch würdig zieht Jesus hinaus aus unseren Kirchen und hinein in unser Leben. Er begegnet uns dort, wo wir leben, wo viele gerade in diesen Tagen ungewohnt viele Stunden verbringen. Für die meisten ist das eine ungewohnte, für viele auch eine schmerzvolle Erfahrung. Schmerzvoll nicht nur, weil wir unsere Lieben nicht treffen können. Schmerzvoll vor allem angesichts des großen Leidens, das in der Nähe und in der Ferne stattfindet.

 

Die Welt leidet in diesen Tagen. Sie leidet gemeinsam wie noch nie, denn wir können über die Medien die Zahlen der Erkrankten in den Ländern dieser Erde nachverfolgen. Wir sehen, wie sie steigen, bei uns nur mehr moderat, anderswo dramatisch. Wir lesen die Zahlen der Erkrankten, der Gesundeten und mit großem Schmerz jene der Verstorbenen. Ob sie nun an oder mit Covid 19 gestorben sind, mag für die Statistik relevant sein, für Angehörige und Freunde, die um einen geliebten Menschen trauern, wohl kaum. Diese Trauer, dieser Schmerz spannt sich um unseren Erdball  -  von China über Italien, Frankreich, Spanien, Österreich bis in die USA. Und mit Sorge schauen wir auf die Regionen dieser Welt, deren Gesundheitssysteme der Pandemie weniger entgegensetzen können als unseres.

 

Die Welt leidet in diesen Tagen. Da ist es völlig unpassend, wenn Staaten einander die Urheberschaft an der Krankheit vorwerfen. Wenn es scheint, als würden sie in einen Wettbewerb treten, wer die effizientere Strategie fährt. Wenn die Corona-Krise politisch instrumentalisiert wird. Die Welt leidet, und es ist ein gemeinsames Leiden. Vielleicht ist dieses gemeinsame Leiden eine Chance für ein Umdenken von uns allen: Wir sind eine Weltgemeinschaft, wir leben zusammen auf der Erde, die Gott, der Schöpfer, uns geschenkt hat.

 

Wir sind eine Weltgemeinschaft, die gemeinsam Leid lindern und schließlich bewältigen kann. Dazu ist es notwendig, dass wir innehalten und ins Nachdenken kommen. Wie oft haben wir aus einer sicher geglaubten Distanz auf das Leiden anderer Menschen geschaut, vielleicht auch mitgelitten. Aber immer mit dem Gefühl, dass uns dies in Europa, uns hier in Österreich nicht würde passieren können. Mit welcher Härte wurden Preise auf Kosten anderer immer niedriger gedrückt, damit wir möglichst viel und günstig konsumieren können. Wie sind wir mit unserer eigenen Landwirtschaft umgegangen, wie mit den Menschen in Berufen, die sich jetzt als „systemrelevant“ herausstellen?

 

Der Karfreitag 2020 ist ein Tag zum Innehalten, wahrscheinlich mehr als jeder andere Karfreitag, an den wir uns erinnern. Jesus leidet am Kreuz stellvertretend für die Schöpfung. Er leidet für uns und mit uns. Im Passionsbericht nach Matthäus wird er mit den Worten „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“zitiert. Das ist der Beginn des 22. Psalms, Worte, die zur traditionellen Liturgie des Karfreitags gehören. Ich lade Sie ein, sich diesen Psalm zu vergegenwärtigen, wenn es Ihnen möglich ist, ihn mitzubeten.

 

Bestimmt hat Jesus nicht nur den Beginn von Psalm 22 gekannt, sondern auch die folgenden Verse. Er fasst sein Leiden, seine Angst, seine Not in Worte der Tradition. In vertrauter Gebetssprache richtet er den Hilfeschrei an seinen Vater. Einen Schrei, den ich aufnehmen möchte, weil sich die Psalmworte mitten in unsere Lebenswirklichkeit fügen. Es ist ein Schrei, den ich auch in mir spüre, wenn mich Bilder des Leides aus aller Welt erreichen: die überfüllten Krankenhäuser in New York, die schaurige Prozession der Leichenwägen in Italien, die gespenstisch leeren Straßen und Plätze in den schönsten Städten der Welt.

 

Und auf einmal spricht mich an, was ich als Kind einer Zeit des Friedens und des Wohlstands so oft überlesen habe: „Unsere Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfst du ihnen heraus.“ Wahrscheinlich mehr als wir heute haben frühere Generationen im Glauben Kraft und Zuversicht gefunden, um Leid, Not und Krisenzeiten durchzustehen. Sie haben sich wie der Psalmbeter in seiner Angst an Gott um Hilfe gewandt: „Aber du, Herr, sei nicht ferne; meine Stärke, eile mir zu helfen!“

 

Nicht ohne Grund ruft der leidende Jesus am Kreuz die Eingangsworte von Psalm 22. Er erwartet die Hilfe seines Vaters. Und er erfährt diese, auch wenn das in der Todesstunde Jesu erst einmal ganz anders erscheint. Gott geht mit seinem Sohn durch das Leiden. Er geht mit ihm in den Tod, um ihn danach aus diesem wieder herauszuführen und auferstehen zu lassen. Und wie für seinen leidenden Sohn so ist Gott auch jetzt für uns Menschen da. Er leidet mit uns, mit jedem einzelnen, mit den Familien, den Freunden  -  mit uns allen. Er leidet mit seiner Welt und er ist für uns da. Er reicht uns seine Hand, nimmt uns in den Arm, wo wir einander nicht in den Arm nehmen können und dürfen. Gott ist da.

 

Wenn wir in diesem Jahr Karfreitag und Ostern in unseren Wohnungen feiern, dann wünsche ich uns, dass wir auch dort spüren, dass Gott da ist, dass uns seine Liebe und Barmherzigkeit überall erreichen kann. Nehmen wir also diese Liebe, diese Barmherzigkeit an. Geben und leben wir sie weiter mitten hinein in unsere leidende Welt. Seien wir gewiss, dass früher oder später alles gut wird. Amen

 


Barmherziger Gott,

groß sind unsere Ängste und Sorgen

an diesem Karfreitag.

Aber du bist bei uns,

du gehst mit uns durch Schmerz und Leid.

So gib uns Kraft aus deiner Kraft.

Lass uns aufeinander Acht geben

und für einander einstehen.

Hilf uns,

ruhig und besonnen zu bleiben.

Zeige du uns einen Weg,

dass wir gut durch diese Zeit kommen,

lass uns einmal wieder

unbeschwert und fröhlich sein.

Amen



Möge Gott auch in diesen schweren Tagen bei uns sein. Er möge uns segnen und behüten. Er möge uns Gelassenheit und Mut schenken, Geduld und die Hoffnung, dass alles wieder gut wird.

 

Einen feierlichen, ruhigen Karfreitag und eine Vorbereitung auf Ostern wünscht

Ihre/Eure Edith Schiemel

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Kommentare: 2
  • #1

    Elli Schüle (Freitag, 10 April 2020 16:03)

    Liebe Edith! Vielen Dank für die zu Herzen gehende und auch so wirklichkeitsnahe Predigt.
    Ich hoffe, dass auch diese Zeit gut vorübergeht! Trotz aller Einschränkungen wünsche ich Dir und Deinen Eltern ein gesegnetes Osterfest1Bleibet gesund!! Elli

  • #2

    Michael (Freitag, 10 April 2020 19:20)

    Sehr gelungen - Worte und Musik, ich konnte mehr damit anfangen als mit dem Fersehgottesdienst. Danke!